[...] Die anhaltende Taubheit der Politiker radikalisiert die Studenten. Seit Klaus Wowereit ankündigte, die Protestwelle aussitzen zu wollen, wird ihm auf jedem Dinner chorisch die Laune zersungen. Und die Studenten sind nicht allein. Nach der Protestpause gegen die »Agenda 2010«, dem Michael-Sommer-Loch, setzen die Gewerkschaften auf den Schulterschluß. Die Demonstration vom 1. November bot ein erstaunliches Bild. Nur wenige zehntausend wurden von den Veranstaltern erwartet. Von den 100 000 Teilnehmern der Demonstration hatten sich also mehrere tausend spontan entschieden.
Die politische Renaissance der Straße geht aus dem Fehlen parlamentarischer Opposition gegen den neoliberalen Mainstream hervor. Allsonntäglich wird in der TV-Talkshow »Sabine Christiansen« der neoliberale Konsens der politischen Klasse zelebriert. Der aufmerksame Zuschauer hört nurmehr Akzentuierungen im neoliberalen Management, keinerlei Alternativen. Schröder kämpfte sich im Herbst 2002 zwar noch einmal auf die Regierungsbank, seit vergangenem Sommer aber regiert Rot/Grün nur noch als geschäftsführender Ausschuß der großen Koalition sozialer Gegenreformen. Die Situation nützt vor allem der CDU. Sobald die (dazu legitimierte) SPD die Säulen des deutschen Sozialmodells – Tarifautonomie und Kündigungsschutz – hinreichend ausgehöhlt hat, kann die CDU sie schleifen.
Die »Agenda 2010« markiert einen Strategiewechsel der neoliberalen Eliten. Aufgegeben ist die Pflege der korporativen Konsenskultur, der Klassenkampf von oben wird offen geführt. [Junge Welt, via Genosse Tabu]